"Ich sechzige" Editorial
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"Ich sechzige" Auftaktveranstaltung




Links: Heinrich Schneider, rechts: Titelblatt der vom "abstimmungsberechtige(n) Saar-Deutschen" Heinrich Schneider verfassten und in Berlin herausgegebenen Schrift
Das Wort des Führers ist unser Befehl
Heinrich Schneider ein deutscher Patriot
Von Erich Später
( Infos zu Erich Später)

(Beitrag aus den Saarbrücker Heften, Nr. 89, Frühjahr 2003. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des PFAU Verlags)

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Es war ein Auftrag von höchster nationaler Bedeutung. Die mit Leitern, Werkzeugen und Blechschildern bewaffneten "Arbeiterkolonnen" der Saarbrücker Stadtverwaltung handelten im Sinne des saarländischen Landtagspräsidenten und Führers der Demokratischen Partei Saar (DPS), Heinrich Schneider.
In den letzten Monaten des Jahres 1956 wurde das Straßenbild Saarbrückens von allen Erinnerungen an den "nationalen Verrat" der Jahre 1945-55 gesäubert. Die Fraktion der DPS, die im Saarbrücker Stadtrat über die absolute Mehrheit verfügte, hatte mit Unterstützung der CDU am 25. September 1956 beschlossen, die unter der Regierung Hoffmann "obwaltenden antideutschen Instinkte" im öffentlichen Raum auszumerzen.

Die späte Rache patriotischer Gesinnung

Heinrich Schneider ließ es sich nicht nehmen, persönlich der Straßenumbenennungskommission vorzusitzen. Ähnlich wie in den meisten Städten und Dörfern des Saarlandes wurde auch in Saarbrücken dafür gesorgt, dass preußischen Generälen, den verlorenen deutschen Ostgebieten, regionalen Feudalherren und Kämpfern gegen den französischen Erbfeind öffentliche Würdigung zuteil wurde.
Auch ein Saarbrücker Steinmetz fand Beschäftigung bei der nationalen Schilder- und "Säuberungsaktion". Er wurde beauftragt, aus der früheren Saargemünder, nun nach Bismarck benannten Brücke folgende Inschrift zu entfernen: "Am 1. Juni 1946 wurde diese wiederhergestellte Brücke von Herrn Colonel Grandval, Gouverneur des Saargebietes, eingeweiht". Der ehemalige Kommandeur der französischen Resistance in Nancy und oberste Repräsentant der französischen Republik an der Saar war für Schneider ein besonderes Hassobjekt, verkörperte er doch die von ihm lebenslang bekämpften politischen und kulturellen Traditionen der französischen Republik.

Ins Visier der deutschen Volkstumskämpfer der DPS geriet auch die Saarbrücker Marschall Ney-Schule, das heutige Deutsch-Französische Gymnasium, das als nationaler "Fremdkörper" betrachtet wurde und für dessen Schließung die DPS eintrat So titelte die DIE DEUTSCHE SAAR, das Parteiorgan von Schneiders DPS, am 12. Oktober 1956: "Marschall Ney Schule für Deutsche? - Nein. Französische Schulen sind Fremdkörper - Schulpflichtige Kinder gehören in unsere Schule." Angesichts der saarländischen Jubelfeiern zum vierzigsten Jahrestag des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages im Frühjahr 2003, bei denen wieder einmal die Selbstbeweihräucherung des Saarlandes als traditionelle Brücke zu Frankreich zelebriert wurde, lohnt es sich, aus dem Leitartikel zu zitieren:
"Wir halten es auch für sehr bedenklich, wenn saarländischen Kindern, die das schulpflichtige Alter von 14 Jahren überschritten haben, die Möglichkeit zum Besuch einer französischen Schule eingeräumt würde ... In diesem Zusammenhang ist der Hinweis nicht unwesentlich, dass diese Schulen, selbst wenn saarländische Kinder nur drei bis vier Jahre (nach Vollendung ihres 14. Lebensjahres) dort sein sollten, die Kinder politisch zu Franzosen erziehen. Mag nach deutschem Recht dem Erzieher freigestellt sein, wo er sein Kind nach dem 14. Lebensjahr zur Weiterbildung hingibt - die französischen Schulen sind ein Fremdkörper in unserem Gebiet."1
Ein "Fremdkörper" war für Schneider auch die ehrende Erinnerung an Max Braun, den langjährigen Vorsitzenden der saarländischen SPD, der im Abstimmungskampf 1935 mutig die Werte der Demokratie und des Rechtsstaates gegen die sich formierende saarländische "Volksgemeinschaft" verteidigt hatte. Max Braun, der 1945 kurz vor seiner geplanten Rückkehr aus dem englischen Exil verstarb, hatte die geballte Wut der deutschen Nationalisten an der Saar auf sich gezogen. Es war mehr als ein symbolischer Akt, als im Herbst 1956 der regionale Feudalherr, Großherzog Friedrich, wieder zum Namensgeber der Max Braun-Straße wurde. Es war eine nachgeholte politische Hinrichtung, die man an dem Sozialisten und militanten antifaschistischen Widerstandskämpfer vollzog. Die traditionelle Borniertheit und Provinzialität der saarländischen Gesellschaft zeigt sich darin, dass der größte Sohn der saarländischen Demokratie und Arbeiterbewegung bis heute im Land keine angemessene Würdigung und Erinnerung erfährt. Die Angehörigen Brauns wussten die symbolische Bedeutung der Straßenumbenennung sehr wohl zu interpretieren und ließen seine sterblichen Überreste von Saarbrücken nach Neuss überführen.

Ehemaliges Berliner Document Center

Die Bestände des ehemaligen Berliner Document Center wurden 1994 von den USA an das Bundesarchiv in Berlin übergeben. Sie enthalten als wichtigste Bestandteile die von der US-Armee in einer Papiermühle bei München beschlagnahmte Mitgliederkartei der NSDAP und die SS-Führerakten des SS-Personalhauptamtes. Die vom Reichsschatzmeister geführte Mitgliederkartei der NSDAP ist mit circa 11,5 Millionen Karten relativ dicht überliefert. Sie setzt mit der Wiederbegründung 1925 ein. Neben der zentralen alphabetischen Serie war eine nach Ortsgruppen organisierte "Gaukartei" geführt worden. Über die persönlichen Daten, die Mitgliedschaft und Ortsveränderungen hinaus enthalten die Karten gelegentlich weiterführende Hinweise.


Die Seiten 15 und 51 aus der der Heinrich Schneider-Schrift "Unsere Saar"



Oben: Heinrich Schneiders NSDAP-Mitgliedskarte (Vorderseite) mit dem Datum seines Parteieintritts.

Unten: Rückseite der Mitgliedskarte, aus der hervorgeht, dass Schneider nicht aus der Partei ausgeschlossen wurde

Ein begehrter Gauredner

Für Heinrich Schneider und seine Kameraden von der DPS war die Auslöschung der öffentlichen Erinnerung an Braun ein später Triumph. Schneiders politischer Werdegang war eng verknüpft mit dem erbarmungslosen Kampf gegen die Ideen und politischen Traditionen, die Max Braun und die saarländische SPD bis 1935 im Saargebiet repräsentierten: Politische und soziale Demokratie, Antifaschismus, Verständigung und Aussöhnung mit der französischen Republik, unbedingtes Eintreten für die verfolgte und bedrohte jüdische Minderheit.2
Laut Mitgliedskartei der NSDAP war Heinrich Schneider 1931 als Mitglied Nr. 419405 in die NSDAP aufgenommen worden. Als NS-Aktivist mit juristischer Ausbildung hatte er schnell Karriere gemacht. Er war Leiter der Presse- und Rechtsabteilung der Gauleitung der NSDAP-Saar und ein begehrter "Gauredner", Nach der "Machtübernahme" der Nationalsozialisten wurde er "Saarreferent" im preußischen Innenministerium und organisierte an zentraler Stelle die Aktivitäten der von den Nazis gesteuerten Deutschen Front im Abstimmungskampf 1934/35. In seiner 1934 für eine reichsdeutsche Leserschaft geschriebenen Propagandaschrift UNSERE SAAR forderte er die "Saar-Deutschen" auf, sich dem Befehl des Führers zu unterstellen: "Das Wort des Führers ist unser aller Befehl. Sein Befehl ist unsere Pflicht, und diese Pflicht heißt für das ganze Deutschland: Kampf um die deutsche Saar." Die Saarländer selber müssten, damit dieser Kampf erfolgreich sei, alle Verräter aus dem "Volkskörper" ausmerzen, und er zielte damit in besonderer Weise auf den Vorsitzenden der saarländischen Sozialdemokraten Max Braun, den er mit dem bis heute in der saarländischen Politik beliebten Stigma des "Zugezogenen" (Braun war 1923 von Neuss nach Saarbrücken gekommen) belegt. "Wenn immer im deutschen Vaterland die NSDAP die Sozialdemokratie als die Partei des Landesverrats bezeichnete, so rechtfertigte sich dieser Vorwurf ganz besonders durch das Verhalten der Führung der SPD an der Saar. Ihr Führer ist der berüchtigte Max Braun, der erst 1923 von Neuss am Rhein zur Saar kam. Würde die Saarregierung heute die Saarbevölkerung nach ihrem Willen befragen, so würde sie und Frankreichs Schützling Braun eine große Überraschung erleben", schrieb Schneider. Ein besonderes Anliegen war ihm die Entlarvung und Kennzeichnung demokratischer und sozialistischer Politiker als Juden. Über die saarländische Liga für Menschenrechte schrieb er, sie umfasse wie ihre in Deutschland verstorbene Schwester "im wesentlichen nur Juden".
Nachdem sich 90 Prozent der Saarländer 1935 für den Anschluss an Hitler-Deutschland entschieden hatten, konnte man die Verwirklichung von Schneiders Traum der "Säuberung des saarländischen Volkskörpers" von Linken und Juden in Angriff nehmen. Die saarländische Linke repräsentiert dabei, jenseits aller politischen Differenzen, die verhassten Ideale universeller menschlicher Gleichheit: Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus. Dem jüdischen Teil der Menschheit wird in dieser deutschen Konzeption einer revolutionären Neuordnung der menschlichen Zivilisation auf der Basis radikaler anthropologischer Ungleichheit die biologische Trägerschaft all dieser verhassten Ideen zugeschrieben.
Die staatlich organisierte Entrechtung, Ausplünderung und Vertreibung von Saarländern jüdischen Glaubens beginnt am 13. Januar 1935 und endet für Hunderte von Menschen in den deutschen Vernichtungslagern. Für dieses Verbrechen ist Heinrich Schneider als Propagandist und hoher Funktionär der NSDAP politisch und moralisch mitverantwortlich.
Die nationalsozialistische Bewegung und ihr charismatischer Führer verkörpern den radikalen deutschen Nationalismus, der zur Staatsmacht wird. Im Saarland, später auch in Österreich, dem Sudetenland und Danzig manifestiert sich in der Leichtigkeit, mit der es gelingt, die politischen Feinde zu isolieren und auszuschalten, die gesellschaftliche Mehrheitsfähigkeit und Attraktivität des radikalen deutschen Nationalismus, der weit über die NSDAP hinausreicht.

Landtagsmitglied Richard Becker



CDU-Fraktionsvorsitzender Erwin Albrecht



Hubert Ney


Zwanzig Jahre später brachte Schneider diesen Zusammenhang auf den Punkt, als er auf einer Versammlung in Düsseldorf am 11. Juni 1956 die anwesenden Journalisten aufforderte: "Schreiben sie ruhig, wir seien alte Nazis - bei deutsch denkenden Menschen ist das die beste Propaganda". Zu diesem Zeitpunkt war er Präsident des saarländischen Landtages. Seine DPS hatte im Januar 1956 bei den Landtagswahlen 24 Prozent der saarländischen Wähler für sich gewinnen können und war knapp hinter der CDU zur zweitstärksten Partei geworden. Dieser späte Triumph, die, Erringung politischer Macht und gesellschaftlicher Reputation, war Heinrich Schneiders persönliches "Wunder an der Saar". Er wurde entschädigt für die bittere Niederlage, die er als einer der Anführer saarländischer Nazis im Kampf gegen die Clique des Gauleiters Joseph Bürckel hatte erleben müssen. Er war von den Schaltstellen der Macht verdrängt worden und hatte sein Geld als Rechtsanwalt verdienen müssen. Schneider hat aus der Niederlage im Kampf rivalisierender Nazi Cliquen um Macht und Pfründe die persönliche Legende gestrickt, er sei wegen politischer Differenzen kaltgestellt und aus der NSDAP ausgeschlossen worden. Zwar wurde er im Zusammenhang des Parteigerichtsverfahrens des neuen Gauleiters Bürckel gegen den ehemaligen NSDAP-Führer Spaniol am 21. Oktober 1937 wegen "dauernden parteischädigenden Verhaltens" von einem Parteigericht in Saarbrücken aus der NSDAP ausgeschlossen. Doch wurde der Ausschluss von der Reichsleitung nicht bestätigt, so dass Schneider bis 1945 ordentliches Parteimitglied blieb.
Schneiders Gegendarstellungen bezüglich seiner NS-Vergangenheit beziehen sich fast immer auf seine Berliner Tätigkeit von 1933-35, die in seinen Augen keine nationalsozialistische, sondern eine Tätigkeit, die für jeden anständigen Saarländer eine Selbstverständlichkeit gewesen sei: "Das Bekenntnis zum deutschen Vaterland". Für die Behauptung Schneiders, er habe als Rechtsanwalt Regimegegner und auch Juden verteidigt, fanden sich keine Belege in seinem Nachlass. Für die politische Bewertung seiner Person spielt dies auch keine Rolle. Im wesentlichem bleiben seine politischen und beruflichen Tätigkeiten nach 1935 im Dunkeln. Im Amtshandbuch für den Gau Saarpfalz 1937/38 wurde er "als arischer Rechtsanwalt" geführt. In der Zeit von 1942 bis 1945 arbeitete er als Jurist in Ribbentropps Auswärtigen Amt.

Neuer Aufstieg im alten Geist

Schneiders politischer Wiederaufstieg nach 1945 war eng verbunden mit dem Kampf gegen das verhasste "Separatisten- und Emigranten-Regime" der 1947 konstituierten Saarländischen Republik. Die Männer und wenigen Frauen, die das Saarland von 1947-55 regierten, bezogen ihre moralische Legitimation aus ihrem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Sie hatten im Abstimmungskampf 1935 die saarländische Demokratie verteidigt und dafür mit Exil, Folter und Konzentrationslager bezahlt. Viele ihrer Mitstreiter waren ermordet worden. Auf Seiten der so genannten pro deutschen Parteien, vor allem in Schneiders DPS und der saarländischen CDU, sammelten sich die alten Funktionäre der Deutschen Front von 1934/35, die vielfach bereits 1933 Mitglieder der NSDAP geworden waren. Ihre Politik hatte das Saarland in den größten politischen, moralischen und materiellen Bankrott seiner Geschichte geführt. Die allerwenigsten waren bereit, dies anzuerkennen, geschweige denn Verantwortung für ihre Beteiligung an der Errichtung und Durchführung der Terrorherrschaft zu übernehmen.


Die Saarländische Landesregierung von 1957 (vlnr):
Franz-Josef Röder (Kultus), Hubert Ney (Justiz), Kurt Conrad (Arbeit),
Ministerpräsident Egon Reinert, Manfred Schäfer (Finanzen), Heinrich
Schneider (Wirtschaft), Julius von Lautz (Inneres)



Egon Reinert



NSDAP-Mitgliedskarte von Egon Reinert


NSDAP-Mitgliedskarte von Richard Becker



NSDAP-Mitgliedskarte von Julius von Lautz
Mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 und der Reintegration der nationalsozialistischen Funktions- und Vernichtungseliten gewannen diese Pro deutschen im Saarland immer mehr an Boden. Sie weigerten sich, die saarländische Verfassung zu akzeptieren, und propagierten den Wiederanschluss an Deutschland. Schneider gelang es 1950/51, durch die Organisation von Masseneintritten vor allem ehemaliger saarländischer Nazis die wirtschaftsliberale DPS zu übernehmen. Deren Verbot durch die Regierung Hoffmann machte Schneider zum Märtyrer der deutschen Nationalisten. Nach dem Vorbild der Kampagnen der Deutschen Front von 1934/35 gegen die saarländischen "Verräter" entfesselte er seine Propaganda gegen das "Hoffmann Regime" und stilisierte sich und seine alten Nazi-Kameraden zu Opfern der ehemaligen Emigranten und Separatisten.3 Die Volksabstimmung vom 13. Oktober 1955 über das Europäische Saarstatut wird von den Saarländischen Heimatbundparteien (DPS, CDU, deutsche Sozialdemokraten) zur Generalabrechnung mit der saarländischen Nachkriegspolitik und den sie prägenden antifaschistischen Widerstandskämpfern umfunktioniert. Die Kampagne gegen den militanten katholischen Hitler-Gegner Hoffmann, der als "Ulbricht" des Saarlandes bezeichnet wurde, entbehrt angesichts des politischen Werdegangs der meisten politischen Repräsentanten von DPS und CDU nicht einer gewissen Komik. "Eine Art Rütlischwur bindet fortan die Führer der deutschen Parteien: sie wollen und werden solange gemeinsam handeln, bis die letzten Reste des Separatismus in unserer Heimat ausgemerzt sind", schrieb die deutsche SAARZEITUNG auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung im Sommer 1955.


Die Fraktion der Ewiggestrigen

Nach dem Sieg in der Volksabstimmung vom 23. Oktober 1955 und der folgenden Landtagswahl am 18. Dezember 1955 wurde diese Drohung zur politischen Linie der von den ehemaligen Heimatbundparteien gebildeten neuen saarländischen Koalitionsregierung. Im Gegensatz zu 1935 waren aber dem Wunsch nach "Ausmerzung" enge politische und rechtliche Schranken gesetzt. Die aufgestaute Wut entlud sich in einem Amoklauf gegen die antifaschistische Erinnerungskultur des Saarstaates. Die zweite, diesmal freiwillige Emigration hochrangiger Politiker der Hoffmann-Ära wurde mit Genugtuung zur Kenntnis genommen.
Verwaltungen, Behörden und Justiz werden durch Pensionierungen, Versetzungen. Und bürokratische Willkür von "Separatisten" gesäubert.

Bereits im Abstimmungskampf hatten sich die künftigen Führungsgruppen an den Schaltstellen der Macht in Gesellschaft, Politik, Bürokratie und auch in den Massenmedien formiert. Lebensgeschichtlich haben sie ihre Erfahrungen auf Seiten der Mehrheit der Saarländer gemacht, als führende Mitglieder der nationalsozialistisch gesteuerten Deutschen Front in den Jahren 1934/35, als Angehörige der NS-Funktions- und Vernichtungselite, in der Rüstungswirtschaft, als Organisatoren der deutschen Terror- und Ausplünderungsherrschaft im besetzten Europa.
Detaillierte Arbeiten über den Austausch der gesellschaftlichen und politischen Elite an der Saar nach der zweiten Volksabstimmung liegen bis heute nicht vor. Eine stichprobenartige Anfrage beim Berliner Document Center (siehe S. 98) hat für den sich im Januar 1956 konstituierenden Landtag folgende Ergebnisse gebracht: Die Fraktion der DPS hatte während der Legislaturperiode 16 Mitglieder. Die Stichprobe umfasste sieben Abgeordnete, davon waren sechs Mitglieder der NSDAP, der siebte, Peter Engel, war in der Zentralkartei nicht erfasst, er fand sich allerdings in einem Verzeichnis der SS. Als Mitglied der SS war er von 1942 bis 1944 in Warschau im Rang eines Oberscharführers stationiert Richard Becker, wegen seiner Verdienste im Abstimmungskampf 1935 zum Mitglied des Saarbrücker Stadtrates ernannt, trat 1936 der NSDAP bei. Der Fraktionsvorsitzende Ernst Schäfer wurde am 1. November 1935 Mitglied der Partei. Sein Vorgänger Paul Simonis wurde am 1. Juni 1933 aufgenommen.


Röders NSDAP-Mitgliedskartei



Röders NS-Lehrerbund-Mitgliedskartei mit Hinweis auf seine
Mitgliedschaft im Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps
NSKK Sturm 21/7 Saar

Nachfolger Heinrich Schneiders als Präsident des saarländischen Landtages wurde Wilhelm Kratz von der CDU. Er wurde am 1. Juni 1933 in die NSDAP aufgenommen. Sein Nachfolger Julius von Lautz, ebenfalls CDU, wurde einen Monat vor Kratz am 1. Mai 1933 Mitglied der Partei des Führers. Er war dann von 1959 bis 1968 saarländischer Justizminister.
Der CDU-Fraktionsvorsitzende Erwin Albrecht wurde am 1. Juni 1936 Mitglied der NSDAP. Als Richter am Sondergericht Frag war er nach tschechoslowakischen Angaben für Todesurteile gegen Widerstandskämpfer verantwortlich. Diese Angaben bedürfen noch der Überprüfung.
Nachdem der Ministerpräsident Hubert Ney - er war führender Funktionär der Deutschen Front - am 25. März 1957 zurücktrat, wurde Egon Reinert zu seinem Nachfolger gewählt Sein Mitgliedsdokument verzeichnet den 1. Juni 1933 als Beitrittsdatum zur NSDAP.
Nachfolger Reinerts als Ministerpräsident wurde Franz Josef Röder, Mitglied der NSDAP seit 1. August 1933, wenig später aus dem Philologenverein aus- und am 1. Februar 1934 dem NS-Lehrerbund beigetreten. Röder war Angehöriger des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps NSKK Sturm 21/7 Saar. Er wechselte 1937 nach Den Haag, wo er Mitglied der illegalen NSDAP-Organisation in Holland wurde. Als Leiter des deutschen akademischen Austauschdienstes in Den Haag war er unter anderem für die "weltanschauliche" Beurteilung holländischer Studenten zuständig, die als Nazi-Sympathisanten einen Studienaufenthalt in Deutschland beantragten.
Heinrich Schneider verstarb hoch geehrt 1974. Er hatte noch einen historischen Roman über sein Leben und den Abstimmungskampf 1955 verfasst, Das Wunder an der Saar, der ein saarländischer Bestseller wurde. Die saarländische F.D.P./DPS bemüht sich seit Jahrzehnten, den ehemaligen Vorsitzenden der Saarbrücker Straßenumbennungskommission durch eine nach ihm benannte Straße zu ehren. 1984 forderte sie, die Westspange nach ihm zu benennen - mit der originellen Begründung, dass Heinrich Schneider einer der Förderer der "Zurück nach Deutschland-Bewegung" gewesen sei.
Im Bundestagswahlkampf 2002 erklärte der saarländische FDP-Generalsekretär Jorgo Chatzimarkakis den einstigen Gauredner der NSDAP und rabiaten Antisemiten Schneider zum Traditionsbestand der F.D.P. Saar. Obwohl man dem Generalsekretär nach Lektüre seiner Begründung für die Ehrung Schneiders – "Deswegen buchstabieren wir ab sofort das DPS in unserem Namen mit 'Definitiv pro Saarland'" - ein hochgradig ausdifferenziertes Geschichtsbewusstsein bescheinigen muss, kann man doch vermuten, dass Heinrich Schneider darüber nicht glücklich gewesen wäre. Eine Partei, deren Generalsekretär einen solchen Namen trägt, wäre nicht die seine.


Aktennotiz Röders, die er während seiner Zeit als Leiter der
niederländischen Zweigstelle des Deutschen Akademischen
Austauschdienstes verfasste

Literatur

1 Siehe Artikelserie von Peter Miska, So deutsch ist die Saar, FRANKFURTER RUNDSCHAU, Oktober 1956

2 Gerhard Paul, Die saarländischen Emigranten und ihr gescheiterter Staat, in: Grenzfall. Das Saarland zwischen Deutschland und Frankreich 1945-1960, Hg. Rainer Hudemann, Burkhard Jellonnek, Bernd Rauls, Rasch und Röhrig Verlag. St. Ingbert 1997, S. 135-149.

3 Jürgen Hannig. Grenzen der Politik. Saarfrage und Abstimmungskampf 1955, in: Von der "Stunde 0" zum "Tag X"
Das Saarland 1945-59, Katalog zur Ausstellung des Regionalgeschichtlichen Museums im Saarbrücker Schloss, Hg. Stadtverband Saarbrücken, Saarbrücken 1990, S.351-378.




Erich Später, geb. 1959, arbeitet - nach Buchhändlerlehre und Studium in Berlin und Saarbrücken - heute für die HeinrichBöll-Stiftung und schreibt für die Zeitschrift KONKRET.

Weitere Publikation des Autors:

Kein Frieden mit Tschechien
Die Sudetendeutschen und ihre Landsmannschaft
Preis: 14,- EUR
Konkret Verlag

In den Debatten um das »Zentrum gegen Vertreibung«, das die deutschen Vertriebenverbände in Berlin errichtet sehen wollen, wird der von Deutschland 1939 begonnene Vernichtungskrieg und die fast vollständige Auslöschung der europäischen Juden gerne als »Vorgeschichte« abgehandelt.
Erich Später untersucht diese »Vorgeschichte« am Beispiel der Tschechoslowakei. Die dort lebende deutsche Minderheit hatte eine zentrale Funktion bei der Zerschlagung der demokratischen Republik 1938/39 und der Etablierung der siebenjährigen deutschen Besatzungs- und Terrorherrschaft, unter der 260.000 tschechoslowakische Bürger jüdischer Herkunft ermordet und die Auslöschung der tschechischen Nation im Falle eines deutschen Sieges geplant wurde. Späters Buch macht klar, daß diese »Vorgeschichte« gar keine andere Folge haben konnte als die sogenannte Vertreibung.