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SZ-Bericht vom 22. Januar 2011 von der Veranstaltung am Donnerstag, 20. Januar 2011

Von Frankreich lernen, heißt protestieren lernen

Die Forscher Oliver Nachtwey und Alexander Neumann haben sich auf einer Veranstaltung in Saarbrücken mit unterschiedlichen Protestkulturen in Deutschland und Frankreich befasst.

Von SZ-Redakteur Johannes Kloth

Saarbrücken. Warum gehen in Frankreich massenweise Menschen gegen Sozialabbau und ungerechte Umverteilung auf die Straße, während in Deutschland der große Proteststurm ausbleibt?
Diese Frage warf die Peter-Imandt-Gesellschaft in einer Veranstaltung mit den Protest-Forschern Oliver Nachtwey (Uni Trier) und Alexander Neumann (Saarbrücker iso-Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft) auf. Neumann ging der Frage nach, warum sich die relativ autoritär organisierte und in ihrer Alltagskultur oft konformistische französische Gesellschaft im Protest radikalisiert.
Nach seinen Angaben besteht der aggressive Kern der Streikenden und Demonstranten in Frankreich aus überschaubaren Personenkreisen. Wenige, die aber Massen mobilisierten. Selbst im antiautoritären Protest spiegelten sich autoritäre Strukturen.
Den deutschen „Krisenkorporatismus“ machte Oliver Nachtwey als einen der Gründe für das Ausbleiben sozialer Unruhen in Deutschland während der jüngsten Wirtschaftskrise aus. Geschickt habe die Bundesregierung über Kurzarbeit und andere Maßnahmen Gewerkschaften befriedet, während die Partei „Die Linke“ Widerstand in parlamentarische Formen kanalisierte. Das so viel gelobte „Arbeitsmarktwunder“ habe jedoch eine weitere Spaltung zwischen Stammbelegschaften und prekär Beschäftigten befördert. Bislang scheint es die Stärke von Vermittlungselementen wie Gewerkschaften zu sein, die Deutschland von Frankreich unterscheidet. Sie halten quasi den Druck im Kessel. Noch. Denn zumindest Neumann will die Revolution schon „vor den Toren Kern-Europas“ gesichtet haben: Während sich Island mit einer verfassungsgebenden Versammlung neu konstituiere, vertrieben die Tunesier ihren Präsidenten. „Deutsche Revolutionäre können keinen Bahnhof besetzen, ohne vorher Fahrkarten zu lösen“, spottete Lenin. Die Menschen in Stuttgart haben aber gezeigt, dass man an Bahnhöfen nicht nur Fahrkarten lösen kann.