Archiv 2003



Alternativen zur Zwei-Klassen-Medizin
Vortrag von Nadja Rakowitz im Knappschaftskrankenhaus in Sulzbach/Saar (19.11.2003)


1. Ausgangssituation

Heute ist Buß- und Bettag. Vor zehn Jahren war das ein Feiertag, dann ist er 1995 dem Kapital geschenkt worden. Er ist unter der Regierung Kohl abgeschafft worden, um die Pflegeversicherung so zu finanzieren, dass das Kapital nicht davon belastet wird. Als die Regierung Kohl dann auch noch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall reduziert hat, reichte es der Bevölkerung und sie wählte die Rot-Grünen - in der Hoffnung, dass sich hier wieder etwas ändern würde. Nun, geändert hat sich etwas, aber was und in welche Richtung? Das will ich am Gesundheitsmodernisierungsgesetz deutlich machen und zum anderen Überlegungen zu Alternativen zur Zwei-Klassenmedizin oder vielleicht zur Klassenmedizin überhaupt anstellen.

Das Programm der SPD zum Bundestagswahlkampf 2002 enthält das Versprechen: “Eine Zwei-Klassen-Medizin wird es mit uns nicht geben.” Mit dem Begriff der Zweiklassenmedizin werden gesundheitliche Versorgungssysteme charakterisiert, in denen der Zugang zur medizinischen Behandlung und ihre Qualität von den finanziellen Möglichkeiten des Patienten abhängen. In diesem Sinne ist das das Gegenteil eines solidarischen Gesundheitssystems, dessen Aufgabe darin besteht, jedem Menschen mit gesundheitlichen Problemen unabhängig von sozialem Status und finanziellen Ressourcen den freien Zugang zu einer medizinisch hochwertigen Versorgung zu gewährleisten. Noch ist das deutsche Gesundheitssystem - wenn man mal von den Privaten Versicherungen etc. absieht - im großen und ganzen so organisiert. Der solidarische Charakter der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Deutschland drückt sich vor allem in bestimmten Umverteilungskomponenten aus: Zum einen orientiert sich die Beitragshöhe am Lohneinkommen des Versicherten, d.h. Besserverdienende zahlen (gedeckelt durch die Beitragsbemessungsgrenze) einen höheren Beitrag. Zum anderen zahlen chronisch Kranken nicht mehr als Gesunde. Als drittes Merkmal kommt hinzu, dass die Arbeitgeber an der Finanzierung der Krankenversicherung - noch - paritätisch beteiligt sind. Im Zuge der Debatten um die sogenannte Kostenexplosion steht nun dieses Gesundheitssystem, dessen Ursprünge in die Bismarck-Zeit zurückreichen (1883), mit seinen Mängeln und seinen solidarischen Momenten zur Debatte.

Heute wird hier in der BRD vom Gesundheitssystem oft nicht mehr als soziale Errungenschaft gesprochen, sondern als Belastung für die Arbeitgeber oder als Selbstbedienungsladen. Auch von Krankheit wird heute eher in dem Sinn gesprochen, dass unterstellt wird, die Leute seien “zu oft” krank, oder die Arbeitnehmer “machen” krank, also blau, obwohl sie arbeiten könnten. Die Versicherten bzw. die Patienten haben “Freibiermentalität” etc. Selbst bei den meisten Gewerkschaften und den Sozialdemokraten hat sich die Argumentation soweit verkehrt, dass nicht mehr der Erhalt des solidarischen Gesundheitswesens bzw. sein Ausbau der oberste Zweck von Gesundheitspolitik ist, sondern die Senkung der sogenannten Lohnnebenkosten, der sich dann das Gesundheitswesen und die dort Versorgten aber auch die dort Beschäftigten unterzuordnen haben. Das gleiche Argument bemühten die Arbeitgeber schon in der Wirtschaftskrise von 1928/29, als die Krankenkassen durch enorm steigende Arzneimittelpreise und sehr hohe Honorarforderungen der niedergelassen Ärzte und sinkende Einnahmen wegen der enormen Arbeitslosigkeit in die Krise geriet, woraufhin per Notverordnung 1930 und 1932 der Staat reagierte und das tat, was die Unternehmerverbände schon die ganze Zeit gefordert hatten: die Lohnkosten wurden verringert, indem soziale Leistungen abgebaut wurden; das Krankengeld wurde herabgesetzt, eine Krankenscheingebühr eingeführt, die Versicherten an Arzneikosten beteiligt und Mehrleistungen der Krankenkassen beseitigt. (Vgl. Hans-Ulrich Deppe, Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar, Frankfurt/M 1987, S. 26)

a. Versorgungsstrukturen

Im Gutachtens des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen von 2000/2001 wurde festgestellt, dass es in Deutschland eine Über-, Unter- und Fehlversorgung im Gesundheitssektor gibt. “Aus Beiträgen stehen jährlich rd. 140 Mrd. Euro für ihre Finanzierung zur Verfügung. Allerdings erfolgt die Mittelverwendung aufgrund verkrusteter Strukturen und Fehlentwicklungen nicht zielgenau. Wie der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen konstatiert hat, existieren in unserem Gesundheitssystem in Teilbereichen Fehl-, Unter- und Überversorgung. Die Defizite betreffen vor allem die großen Volkskrankheiten, die zudem die höchsten Aufwendungen verursachen. Obwohl das deutsche Gesundheitssystem pro Kopf und gemessen am Bruttoinlandsprodukt hohe Aufwendungen verursacht, ist die Qualität der medizinischen Versorgung verbesserungswürdig. (Gutachten 2000/2001 des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen von, Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, Bd. III Über-, Unter- und Fehlversorgung)

Bei der Volksseuche Rückenleiden sieht der Rat eine "deutliche Überversorgung in bildgebenden diagnostischen und invasiv-therapeutischen Verfahren"; zugleich stellt er eine Unterversorgung im “aktivierenden Management chronisch "Rückenkranker" einschließlich betrieblicher Gesundheitsförderungsansätze und sekundär-/tertiär-präventiver Rückenschulen” fest. (Vgl. Gutachten 2000/2001 des Sachverständigenrats, S. 12)

Einzelleistungsvergütung bei den niedergelassenen Ärzten führt dazu, dass die Ärzte ihren Verdienst selbst steuern können (Vgl. In diesem Geschäft ist nichts heilig. Interview mit Winfried Beck, in: express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr.2 und Nr.3/2003); dies sei ein Fehlanreiz, der bewusst von den Ärzten politisch durchgesetzt wurde, der aber auch zu oben beschriebenen Fehlversorgungen führt, da Diagnosen zu einem großen Teil nach betriebswirtschaftlichen Kalkülen gestellt werden. Laut Kurt G. Blüchel (Vgl. Arzneimittel Tollhaus Deutschland, Frankfurter Rundschau vom 16.08.2003) werden in der BRD doppelt so viele Röntgenuntersuchungen gemacht wie z.B. in den Niederlanden oder in Norwegen, hat die Zahl der Herzkatheter-Labors sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt, ist die Zahl der Katheteruntersuchungen im gleichen Zeitraum um 250 % gestiegen. Es werden im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zu viele Frauen an der Brust operiert, es werden zu viele Gebärmuttern entfernt, zu viele Knieoperationen gemacht usw. Man kann diese Liste lange fortsetzen. Der Artikel zitiert einen Leitartikel des Deutschen Ärzteblatts, in dem steht: “Das im Gesundheitssystem erbrachte Leistungsspektrum orientiert sich primär - völlig zu recht - an den wirtschaftlichen Überlebenschancen der Leistungserbringer und nicht an den Bedürfnissen der Leistungsnehmer”, also der Patienten bzw. Versicherten.

Die Gewerkschaften argumentieren in ihren Stellungnahmen zur gesundheitsreform mit Anbieterdominanz und Überversorgung: “In Berlin und München gibt es mehr Computer-Tomografen und Magnet-Resonanz-Tomografen als in ganz Italien. Die frühere Großgeräteverordnung regelte eine flächendeckende und wirtschaftliche Aufstellung von teuren medizinischen Spezialgeräten. Sie wurde 1997 nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts abgeschafft ... So ist in Deutschland nach Zahlen der Deutschen Krankenhausgesellschaft im Zeitraum von 1990 bis 1997 die Anzahl der MRT-Geräte um 329 % gestiegen. Mit der Abschaffung der Großgeräteverordnung wurden zudem bisherige Verfahren zur Standortplanung außer Kraft gesetzt.” (ver.di (Hrsg.), Gesundheit solidarisch finanziert. Forderungen und Vorschläge für ein gesundes Gesundheitssystem, in: Soziale Sicherheit. Zeitschrift für Arbeit und Soziales, Nr.01/2002) - Dies passt zum einen zur allgemeinen ideologischen Tendenz einer Kritik jeglicher Planung und der Forderung nach Steuerung durch den Markt; zum anderen erklärt sich dies auch aus dem Interesse der Niedergelassenen Ärzte: die Ärzte mit vielen technischen Geräten (Radiologen, Orthopäden, Internisten, Urologen) verdienen am meisten, weil die “technischen Leistungen” besser honoriert werden als die kommunikativen.

Auch in der doppelten Facharztstruktur ist eine Überversorgung zu sehen. Es gibt nur in ganz wenigen Ländern auf der Welt Fachärzte im niedergelassenen Bereich für nahezu alle Fachgebiete. Auch dies ist ein Ergebnis der Interessenspolitik der Ärzte (Vgl. Interview mit Winfried Beck) und basiert auf politischen Entscheidungen (z.B. das Kassenarztrecht von 1955). Eine Konsequenz daraus ist die auch vom Gutachten beklagte mangelnde - aber medizinisch sinnvolle - Verzahnung von Behandlungsphasen- und formen, die unter anderem an der Trennung von ambulant und stationär liegt. Die Gewerkschaft ver.di hat in einem Papier vom 08.April 2003 berechnet, dass es 3,7 Milliarden Euro sparen würde, die doppelte Facharztstruktur abzuschaffen und stattdessen die Facharztversorgung über Krankenhäuser, Polikliniken und Ambulanzen zu organisieren und die ca. 30 000 Fachärzte dort anzustellen. (Das Milliardending. Mutige Reformen statt Leistungsabbau, ver.di-Papier vom 08.04.2003, in: www.verdi.de)

Ein weiteres Problem liegt in der mangelnden Prävention. Gerade bei den sogenannten “big killers” (v.a. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebse, Unfälle) und den sogenannten “big cripplers” (v.a. degenerativen Muskel- und Skelett-Erkrankungen) seien, so Rolf Rosenbrock, “vor Manifestation in erheblichem Umfang durch zeitgemäße präventive Interventionen, die mit durchdachten Strategien gleichzeitig auf Verhältnisse und Verhalten einwirken, zu verhüten.” Rosenbrock zitiert das Gutachten des Sachverständigenrats 2001, nach dem durch Prävention 25 % der heute anfallenden Kosten der Krankenversorgung eingespart werden könnten. (Vgl. Rolf Rosenbrock, Kann die soziale Krankenversicherung in der Marktgesellschaft überleben?, in: Hans-Ulrich Deppe/Wolfram Burkhardt (Hrsg.), Solidarische Gesundheitspolitik. Alternativen zu Privatisierung und Zwei-Klassen-Medizin, Hamburg 2002, S. 24ff.)

Anbieterdominanz auch bei der Pharmaindustrie: bis jetzt ist es der Pharmaindustrie immer gelungen, in D. eine Positivliste zu verhindern. Auch die rot-grüne Regierung hatte diese angekündigt. Sie ist nicht mehr im neuen Gesetz zu finden. Das Defizit der GKV für das Jahr 2001 betrug - bei Gesamtausgaben von 138 Milliarden Euro - 2,0 Milliarden Euro, die Ausgaben für Arzneimittel sind im Jahr 2002 um 10,4 % auf 21,3 Milliarden gestiegen; das war der höchste Anstieg von allen wichtigen Leistungsbereichen der Krankenkassen. Der “Arzneiverordnungsreport 2002” rechnet vor, dass davon 4,2 Milliarden Euro “durch eine wirtschaftlichere Verordnungsweise ohne Qualitätsverlust” hätten eingespart werden können. Gut 1,5 Milliarden Euro würde die Umstellung auf Generika bringen, der Verzicht auf umstrittene Pillen würde knapp 1,2 Milliarden bringen, Scheininnovationen ohne echten zusätzlichen Nutzen (Analogpräparate) mit altbewährten Mitteln zu ersetzen, würde 1,5 Milliarden einsparen. (Vgl. Ulrich Schwabe/Dieter Paffrath (Hrsg.), Arzneiverordnungsreport 2002. Aktuelle Daten, Kosten, Trends und Kommentare, Berlin 2002; vgl. Neue Studie der Gmünder Ersatzkasse, junge welt vom 05.05.2003) Aufschlussreich sind hier auch europäische Vergleichszahlen. So lag der jährliche Pro-Kopf-Umsatz von Arzneimitteln in Deutschland im Jahr 2000 bei 349 Euro. In Ländern mit bekanntermaßen guten Gesundheitssystemen wie Finnland und Dänemark betrug er lediglich 254 bzw. 211 Euro. Ähnliche Diskrepanzen ergeben sich auch bei den gesamten Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben, die in Finnland und Norwegen bis zu 50 % unter den hiesigen liegen. (Goldgrube Gesundheit, junge welt vom 05.05.2003)

Zusammengefasst sind die Versorgungsstrukturen in Deutschland nach dem Interesse und politischen Wünschen der Ärzte und der Großgeräte- und Pharmaindustrie aufgebaut, die deshalb auch die oben beschriebene Über-, Unter- und Fehlversorgung bestreiten, da sie nicht an den Strukturen rütteln wollen. Ihre - zum Teil berechtigte - Einwände gegen eine Ökonomisierung des Gesundheitswesen sind vor allem durch das Interesse gespeist, an den bestehenden, für sie äußerst lukrativen Verhältnissen und Strukturen nichts zu ändern.

Es gibt also aus solidarischer kritischer Perspektive auch genügend Gründe, das deutsche Gesundheitssystem zu kritisieren und eine Reform zu fordern. Hier ist es nur konsequent zu fordern, diejenigen zu schwächen, die das Gesundheitswesen bis dahin gestaltet haben, also vor allem die KVen und die große Industrie. Wir werden gleich sehen, ob das neue Gesetz hierzu etwas beiträgt.

b. Finanzen

Vorab ein paar Sätze zum Sozialstaat: Das BIP im Jahr 2001 betrug 2 063 Mrd. Obwohl es ein konjunkturell schlechtes Jahr war, wuchs es immer noch um 37,5 Mrd. Euro gegenüber dem Vorjahr. (Wachstum im Jahr 2000 gegenüber 1999: 51 Mrd. Euro) Das reale BIP ist zwischen 1992 und 2001 nur einmal, nämlich 1993, nicht gewachsen. Trotzdem haben die öffentlichen Kassen im Jahr 2001 weniger eingenommen als im Vorjahr. Woran liegt das? Die Steuern auf Gewinne und Vermögen (das umfasst: Körperschafts-, Gewerbesteuer, veranlagte Einkommenssteuer, nichtveranlagte Steuer vom Ertrag, Vermögens- und Erbschaftssteuer) haben sich seit 1980 von 6,6 % auf 3,8 % im Jahr 2001 fast halbiert haben. Damit sind Vermögenssteuersätze in Deutschland niedriger als in der EU und auch den USA. (Vgl. Hagen Kühn, Leere Kassen. Argumente gegen einen vermeintlichen Sachzwang, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.06/2003, S. 731ff.) Die Einnahmen durch Körperschaftssteuer sind nach der Senkung von 40 auf 25 % allein in Hessen von 1,4 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf -162 Mio Euro im Jahr 2002 zurückgegangen, d.h. das Land Hessen zahlte im letzten Jahr 162 Mio. Euro an das Kapital zurück und deshalb muss Roland Koch jetzt drastische Sparmaßnahmen durchführen.

Großkonzerne müssen kaum noch Steuern zahlen, nachdem die rot-grüne Gesetzgebung es möglich gemacht hat, Verluste sowohl aus früheren Jahren als auch von Tochterunternehmen zu verrechnen; Veräußerungsgewinne von Kapitalgesellschaften wurden von der Steuer befreit, das verminderte die Staatseinnahmen um zweistellige Milliardenbeträge. (Vgl. Hagen Kühn, Leere Kassen) Hagen Kühn zieht folgendes Fazit: “Was man den Beziehern unterer Einkommen steuerlich gibt, wird ihnen sozialpolitisch wieder abgenommen, zusammen mit den Durchschnittsverdienern finanzieren sie damit die Entlastungen der hohen Einkommen.” (Hagen Kühn, Leere Kassen)

Die Ausgaben

Auch wenn seit 30 Jahren bezogen auf das Gesundheitswesen permanent von einer “Kostenexplosion” die Rede ist, muss ganz klar gesagt werden: Es gibt keine Kostenexplosion. Gemessen am BIP liegen die Ausgaben der GKV seit 1975 ungefähr bei 6 % (Anstieg 1975 - 2000: 0,6 %), während die Beitragssätze im gleichen Zeitraum um 3,1 Prozentpunkte gestiegen sind; das entspricht einem Anstieg um 30 %. Insgesamt werden in der Bundesrepublik 10,6 % des BIP für Gesundheit ausgegeben (USA: 14,7 %, dort sind aber 20 % der Bevölkerung bzw. 40 Millionen Menschen nicht versichert und noch mal 20 % unterversichert! - Vgl. John P. Geyman, Myths as barriers to Health Care Reform in the U.S., in: International Journal of Health Services, Volume 33, Nr.2/2003, S. 315ff.) So betrachtet, gibt es kein Kostenproblem als Ausgabenproblem. Darauf verweisen auch alle Gewerkschaften, die sich in der Auseinandersetzung äußerten.

Generell wird in der öffentlichen Debatte behauptet, dass die Ausgaben für den Sozialstaat insbesondere die Lohnnebenkosten für die Arbeitgeber zu hoch seien. Beides kann so nicht stehen bleiben. Über die sogenannten Lohnnebenkosten kann man nur sinnvoll sprechen, wenn man über die Reallohnstückkosten spricht. Diese sind lt. Europäischer Kommission im Jahr 2002 in Deutschland um 0,3 % gesunken, während sie im Euro-Land-Durchschnitt um 0,3 % gestiegen sind. (Vgl. Mitteilungen der Europäischen Kommission vom 14.01.2003 über die Umsetzung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2002) Auch die deutschen Rekordexportzahlen des Jahres 2002 deuten darauf hin, dass in Deutschland produzierte Waren keineswegs zu teuer sind für den Weltmarkt. Vergleicht man den Arbeitgeber-Anteil an Sozialabgaben international, verweist selbst das Gutachten des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2003) darauf, dass die deutschen Arbeitgeber mit 49,3 % sogar unter den USA (50,7 %) und weit unter dem EU-Durchschnitt (57 %) und dem OECD-Durchschnitt (60,0 %) liegen. (Vgl. Gutachten des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 2003, Band I, Punkt 90) Bezogen auf die Kosten für den Sozialstaat kann man - auch gegen die sozialdemokratische Propaganda - nicht oft genug betonen, dass es die Arbeitnehmer sind, die den Sozialstaat finanzieren. Darauf Hagen Kühn erst kürzlich noch einmal hingewiesen. (Hagen Kühn, Leere Kassen)

Als Gründe für die behauptete “Explosion” werden auf der Kostenseite bzw. Ausgabenseite in der Regel der Medizinisch-technische Fortschritt und das “demographische Problem” angegeben. Beim Medizinisch-technischen Fortschritt gilt zunächst das Argument von oben; Rolf Rosenbrock verweist darauf, der häufigste Fehler sei, dass Innovationen eingeführt, die alten Methoden aber zusätzlich eingesetzt würden. Dass es keine Großgeräteplanung mehr gibt (die auch von den Gewerkschaften gefordert wird), hängt an der allgemeinen polit-ökonomischen Tendenz, den Markt alles richten zu lassen und jede Planung als altmodisch etc. abzutun.

Nimmt man z.B. das Gutachten der Herzog-Kommission, dann beginnt dieses zunächst damit, das “demographische Problem” drastisch zu schildern und wie selbstverständlich zu behaupten, dass durch das Älterwerden der Gesellschaft eine unheimliche Kostenlawine auf die Sozialversicherungen zurolle. Das mag für die Rentenversicherung ein Problem sein. Aber dass die Ausgaben des Gesundheitswesen immer größer werden, weil die Menschen immer älter werden, scheint nur zunächst plausibel. Dagegen sprechen verschiedene - z.T. widersprechende Thesen: Die Menschen werden zwar älter, aber bleiben auch länger gesund; ein Drittel aller Gesundheitskosten im Leben eines Menschen fallen in den zwölf Monaten vor dem Tod an, egal in welchem Alter (Karl W. Lauterbach/Stefanie Stock, Zwei Dogmen der Gesundheitspolitik - Unbeherrschbare Kostensteigerungen durch Innovation und demographischen Wandel?, Gutachten für den Gesprächskreis Arbeit und Soziales der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn Juli 2001; Friedrich Wilhelm Schwartz/Ulla Walter, Altsein - Kranksein?, in: Public Health. Gesundheit und Gesundheitswesen, hrsg. von F.W. Schwartz e.a., München-Jena 2003, S. 163ff.)

). Lt. einer Studie der Max-Planck-Gesellschaft, die die Krankenhausdaten von über 430 000 Patienten der AOK Westfalen-Lippe/Thüringen analysiert hat, steigen die Ausgaben für Gesundheit nicht linear mit dem Alter; statistisch nehmen die Ausgaben ab dem 60. Lebensjahr deutlich ab. (Vgl. “Im hohen Alter sinken die Kosten”, Pressemitteilung der Max-Planck-Gesellschaft vom 12.11.2002)

Generell ist vor allzu einfachen Thesen bezüglich der Bevölkerungsentwicklung zu warnen. Bernd Eggen warnt davor dass, allzu leicht die Argumentation hier in zirkuläre Selbstbezüglichkeit gerate: “Modellrechnungen des Statistischen Bundesamts Mitte der 70er Jahre ... nahmen an, dass je nach Variante in Westdeutschland 2000 zwischen 49 und 52 Millionen Menschen leben würden und 2030 zwischen 32 und 39 Millionen Menschen. Tatsächlich lebten im früheren Bundesgebiet 2000 rund 67 Millionen Menschen, für 2030 rechnet man für das frühere Bundesgebiet zwischen 62 und 64 Millionen Menschen.” Er resümiert in seinem Aufsatz “Demographische Depressionen”: Bei der derzeitigen politischen Handhabung der &Mac226;demographischen Herausforderung‘ fällt auf, dass die gegenwärtigen Probleme in die Zukunft projiziert werden. Zudem rechnen wir mit Entwicklungen, die diese Probleme in der Zukunft noch verstärken werden. Um der zirkulären Selbstbezüglichkeit gerecht zu werden, werden diese nun verstärkten Probleme auf die Gegenwart zurückprojiziert. Man könnte auch sagen: die Gegenwart wird mit der Zukunft überlastet. Dabei ist zu sagen, dass die gegenwärtigen Probleme auf dem Arbeitsmarkt, in den sozialen Sicherungssystemen und im Erziehungssystem nicht von der bisherigen demographischen Entwicklung ausgelöst wurden. So gewinnt man den Eindruck, dass besonders Politik und Wirtschaft versuchen, ihre innersystemischen Probleme zu externalisieren, man könnte auch sagen: verdrängen, indem sie die Gründe für ihre Probleme etwa dem generativen Verhalten der Individuen und jungen Paare zuschreiben und nicht ihrem eigenen Handeln.” (Bernd Eggen, Demographische Depressionen. Bevölkerungsentwicklung in Deutschland, in: Sozialer Fortschritt Nr.10/2002, S. 257f

Außerdem ist es sinnvoller, qualitativ zu unterscheiden, welche Versichertengruppen die größten Kosten verursachen:

1 % der Versicherten verursacht

30 % der Ausgaben

10 % der Versicherten verursacht

80 % der Ausgaben

90 % der Versicherten verursacht

20 % der Ausgaben

0,5 % der Versicherten der GEK verursacht

> 21 074 EUR/Vers. = 20% der Ausgaben (a)

2,5 % der Versicherten der GEK verursachen

>7 606 EUR/Vers. = 49,5 % der Ausgaben (a)

10 % der Versicherten der GEK verursachen

1 725 EUR/Vers. = 80 % der Ausgaben (a)

20 % der Versicherten der GEK verursachen

< 543 EUR/Vers. = 92 % der Ausgaben (a)

50% der Versicherten der GEK verursachen

< 70 EUR/Vers. = 1 % der Ausgaben (a)

10 % der Versicherten verursachen

90 % der KH-Ausgaben (b)

10 % der Versicherten verursachen

60% der Arzneimittelausgaben (b)


(a): GEK-Gesundheitsreport 2003, Ergebnisse der Auswertung zum Schwerpunktthema Charakterisierung von Hochnutzern im Gesundheitssystem, in: www.media.gek.de/downloads
(b): Vgl. Werner Schneider/Norbert Schmacke, Die Reform der Reformen. Zur ordnungspolitischen Neujustierung des Gesundheitssektors, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/2003, S.1081-1090)


• Diese Zahlen sind allerdings nicht so zu lesen, dass man nun eben andere Gruppen von Versicherten, nämlich Chronisch Kranke gegen Gesunde, gegeneinander ausspielen kann, sondern, dass es hier viel zu tun gäbe für Prävention und Vorsorge, für die richtige und gute Versorgung der Chronisch Kranken etc.

Insgesamt ist also die These von der sogenannten “Kostenexplosion” sowohl was die staatlichen Ausgaben, erst recht was die Kosten der Unternehmen angeht, in Zweifel zu ziehen. Plausibel ist sie höchstens für die Arbeitnehmer, die immer größere Abzüge von ihren Reallöhnen hinnehmen müssen. Genau diese sind aber nicht gemeint, wenn von der Kostenexplosion in der öffentlichen Debatte die Rede ist. Die Konfusion dieses Bildes ist aber vielleicht ein Grund dafür, dass diese These bis weit in die Gewerkschaften und ihre Mitglieder eingesickert ist. Hier hat man es im schönsten Marxschen Sinn mit einem Problem von Ideologie zu tun, mit notwendig falschem Bewusstsein. Es wäre Aufgabe der Gewerkschaften, diese aufzuklären und zu kritisieren, nicht sie zu reproduzieren.

Die Einnahmen

Kommen wir deshalb zur Einnahmeseite: Da die Einnahmeseite der GKV wie der gesamten Sozialversicherung abhängig ist von den Bruttolöhnen bzw. deren Entwicklung, hängen also die Einnahmen ab von der Lohnquote. Sinkt die Lohnquote, führt das - bei einem gleichbleibenden Beitragszahlerkreis - zu steigenden Beitragssätzen. Das war in den letzten Jahren der Fall. Die bereinigte Lohnquote ist von 1980 (74,5 %) auf 65,2 % im Jahr 2001 gefallen. Wäre sie heute noch so hoch wie 1980 hätte die GKV kein Problem (könnte der Beitragssatz für Sozialversicherungen bei 32,4 % liegen, H.Kühn, Leere Kassen). Woran liegt das? Zum einen an der Umverteilung von unten nach oben seit den späten 70er Jahren und verschärft seit der “Wende” der Regierung Kohl; zum anderen an der großen Arbeitslosigkeit, die den Beitragszahlerkreis immer weiter verkleinert. Außerdem kommt hinzu, dass das Wachstum der beitragspflichtigen Einkommen der lohnabhängig Beschäftigten zwischen 1980 und 1999 um 31% geringer war als das Wachstum des BIP (Vgl. Eberhard Wille, Reformoptionen der Beitragsgestaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Gesundheit und Gesellschaft Wissenschaft. Das Wissenschaftsforum in Gesundheit und Gesellschaft, hrsg. von der AOK, Nr. 3/2002, S. 7ff.)

Ein weiteres Problem der Einnahmen sieht z.B. die Gewerkschaft ver.di darin, dass die rot-grüne Bundesregierung, wie die konservative vor ihr, die gesetzliche Krankenversicherung als finanziellen Verschiebebahnhof missbraucht habe. In dem Positions-Papier wird die Summe der zusätzlichen Belastungen der gesetzlichen Krankenkassen durch die Maßnahmen der rot-grünen Bundesregierung allein auf 3,07 Milliarden Euro pro Jahr; in der Regierungszeit von Helmut Kohl seien es insgesamt 19,5 Milliarden Euro gewesen. Zu diesen Maßnahmen wird z.B. gezählt die Neuregelung der EU/BU Rente (ca. 600 Millionen Euro), die Minderung der KV-Beiträge für Arbeitslosenhilfeempfänger (ca. 600 Millionen Euro), die Entgeltumwandlung für private Altersvorsorge (= 0,25 Milliarden Euro) etc. .(Vgl. ver.di, Gesundheit solidarisch finanziert, a.a.O., S. 12)

2. Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz vom 8. September 2003

Die Veränderung der Krankenhausfinanzierung durch DRGs (Diagnosebezogene Fallpauschalen) führt zu mehr Wettbewerb unter den Krankenhäusern und zu einer Ökonomisierung der Krankenhausversorgung und setzt die Politik der Einführung von mehr Wettbewerb, wie sie Horst Seehofer mit der Einführung des Kassenwettbewerbs 1992 begonnen hat.

Dem Gesetzentwurf vom 08. September 2003 ging ein Entwurf vom Mai 2003 voraus, der dann in Konsensverhandlungen mit der CDU/CSU modifiziert wurde. Zunächst werden auch hier die üblichen “Argumente” angeführt: “Hinzu kommt: Der medizinische Fortschritt, der begrüßenswert ist, wird tendenziell die Kosten weiter nach oben treiben. Zudem steigt die Zahl älterer Mitbürger weiter an, die im Durchschnitt weniger einzahlen und weitaus mehr Leistungen in Anspruch nehmen müssen. Und angesichts der weltweit angespannten Wirtschaftslage müssen zugleich Wege beschritten werden, die Lohnnebenkosten zu begrenzen, um beschäftigungswirksame Impulse geben zu können.”

Was wird sich ändern?

Zahnersatz: Wird ab 2005 von den Versicherten alleine bezahlt. Er wird zwar noch von der GKV angeboten, die Versicherten haben die Wahl, ob sie gesetzlich oder privat absichern wollen.
• Krankengeld: Das bisher von der siebten Krankheitswoche an gezahlte Krankengeld wird ab 2007 allein durch die Versicherten bezahlt. Sie übernehmen den Arbeitgeberanteil von 0,35 Prozent. Die Ablösung der paritätischen Finanzierung des Krankengeldes mit einem aktuellen Finanzvolumen von ca. 7,1 Mrd. ¤ durch eine versichertenbezogene Finanzierung entlastet die Arbeitgeber und damit die Lohnnebenkosten zusätzlich um ca. 3,5 Mrd. ¤ und belastet die Arbeitnehmer entsprechend.
• Zuzahlungen bei Arzneimitteln: Grundsätzlich müssen bei allen Leistungen zehn Prozent - mindestens fünf, höchstens zehn Euro - zugezahlt werden.
• Praxisgebühr pro Quartal: Bei erstmaliger Inanspruchnahme eines Arztes zahlt jeder Patient zehn Euro je Quartal für beliebig viele Behandlungen bei diesem Arzt. Liegt für eine Behandlung beim Spezialisten eine Überweisung vor, muss keine Gebühr gezahlt werden. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren sind befreit.
• Zuzahlung im Krankenhaus: Hier beträgt die Zuzahlung täglich zehn Euro, sie soll höchstens 28 Tage im Jahr erhoben werden. Für häusliche Krankenpflege und Heilmittel: zehn Euro Praxisgebühr plus zehn Prozent der Tageskosten; nach 28 Tagen übernimmt die Krankenkasse. Für alle Zuzahlungen gilt die Höchstgrenze von zwei Prozent des Bruttoeinkommens, bei Chronikern ein Prozent. Sozialhilfeempfänger werden anderen Versicherten gleichgestellt. Es gibt also keine oder kaum noch Härtefallgrenzen.
• Das Sachleistungsprinzip wird weiter durchlöchert dadurch, dass in Zukunft Kostenerstattung möglich ist.
• Streichung: Die Kassen beteiligen sich nicht mehr an den meisten Taxifahrten zur ambulanten Behandlung. Gestrichen werden auch Sterbe- und Entbindungsgeld sowie Mittel für Sterilisation aus nichtmedizinischen Gründen. Sehhilfen erstattet die Kasse nur noch für Jugendliche bis 18 Jahre und schwer Sehbehinderte. Künstliche Befruchtung wird nur noch eingeschränkt bezahlt. Für den Bund entstehen durch die Übernahme versicherungsfremder Leistungen der Kranken- und Pflegekassen ab dem Jahr 2004 jährliche Mehrausgaben in einer Größenordnung von ca. 4,7 Mrd. Euro; zur Gegenfinanzierung wird die Tabaksteuer um 1 Euro je Packung Zigaretten angehoben.
• Beiträge: Der allgemeine, je zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanzierte Beitragssatz von derzeit rund 14,3 Prozent soll nächstes Jahr auf 13,6 Prozent und 2006 auf 12,15 Prozent sinken. Für Arbeitnehmer kämen aber ein Betrag zur Zahnersatz-Versicherung und für das Krankengeld hinzu.
• Kassen: Durch die Reform werden die Krankenkassen angeblich allein 2004 um rund zehn Milliarden Euro entlastet. Davon können sie drei Milliarden zum Abbau ihrer Schulden verwenden, der Rest muss zur Senkung des Beitragssatzes genutzt werden. Das Gesetz soll sicherstellen, dass die Senkung umgesetzt wird. Außerdem soll die Verwaltung gestrafft werden, um die Verwaltungskosten zu senken.
• Ärzte: Sie müssen Fortbildungsnachweise erbringen, sonst kann es Nachteile bei der Vergütung geben oder Entzug der Zulassung drohen. Fortbildungen müssen unabhängig von wirtschaftlichen Interessen sein.
• Hausarztmodelle: Kassen müssen Hausarztmodelle anbieten. Der Hausarzt wird Gatekeeper. Wer am Modell teilnimmt, verpflichtet sich, immer zu diesem Hausarzt zu gehen und bekommt dafür Boni. Krankenhäuser können sich bei hochspezialisierten Leistungen und im Rahmen von Disease Management Programmen (Chroniker Programme) an ambulanter Behandlung beteiligen.
• Integrierte Versorgung: Zwischen 2004 und 2006 stehen bis 1 % der jeweiligen Gesamtvergütung der KV und der Krankenhausvergütung für die integrierte Versorgung zur Verfügung. KH dürfen nur in Ausnahmefällen ambulant versorgen.
• Einzelverträge: Mit besonders qualifizierten Hausärzten können Einzelverträge abgeschlossen werden. Während im alten Entwurf alle Fachärzte außer Gyn, Kinder- und Augenärzte Einzelverträge mit den Kassen machen sollten, ist die hier wieder zurückgenommen. (Sieg der KV)
• In Zukunft kann es Medizinische Versorgungszentren geben, die von den Leistungserbringern gegründet werden können
• Pharmaindustrie: Auch für neue Medikamente ohne erkennbaren Zusatznutzen soll es die billigeren Festbeträge geben. Versandapotheken werden zugelassen. Die Preisbindung für rezeptfreie Mittel fällt, Re-Importe müssen billiger abgegeben werden. Es gibt weder Positiv- noch Negativliste. Die Pharmaindustrie hat schon darauf reagiert. In der Ärzte Zeitung vom 05.11.2003 ist zu lesen. “Da nach der Gesundheitsreform rezeptfreie Medikamente - bis auf einige Ausnahmen - im neuen Jahr nicht mehr von den Kassen bezahlt werden sollen, haben einige Pharmaunternehmen mit Anträgen auf Neuzulassung von Präparaten reagiert. Beim Bundesinstitut für Arzneimittel, so berichtete dessen Präsident Professor Harald Schweim auf der Pharma-Fachtagung in Königswinter, sind in den vergangenen drei Monaten etwa 900 Anträge auf Neuzulassung mit bekannten Stoffen eingegangen. Mit diesen Anträgen werden Arzneimittel, die bislang rezeptfrei sind, modifiziert: Zum Beispiel durch höhere oder andere Dosierungen, neue Indikationen oder neuen Angaben zu Risiken. Das Ziel ist, daß die so neu zugelassenen Arzneimittel rezeptpflichtig sind.”
• Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin: wird neu errichtet, wird Behandlungsleitlinien entwickeln, Empfehlungen für eine zeitgemäße Fortschreibung des Leistungskatalogs erarbeiten und Nutzen-Bewertungen von neuen Arzneimittel durchführen. (Im alten Entwurf wurde noch Kosten-Nutzen-Relation überprüft, hier hat sich die Pharmaindustrie durchgesetzt); außerdem sitzen die Kassen und die KV im Institut (im alten Entwurf war es unabhängig.)
• Stärkung der Patientensouveränität und Ausbau von Rechten, Wahl- und Einflussmöglichkeiten der Patientinnen und Patienten
• Verbesserung der Transparenz auf allen Ebenen und Einführung von Patientenquittungen sowie der elektronischen Gesundheitskarte.

“Mit diesen Leistungsstreichungen und Zuzahlungen sollen bis zum Jahr 2007 insgesamt 66 Mrd. Euro eingespart werden. Es handelst sich dabei um das größte Streichvolumen, das in der Bundesrepublik jemals für die gesetzliche Krankenversicherung beschlossen wurde. So sollen die Kassen entlastet werden u.a. durch Leistungsausgrenzungen ab 2004 jährlich um 2,5 Mrd. Euro (insgesamt bis 2007: 10 Mrd. Euro); durch Zuzahlungen ab 2004 jährlich um 3,4 Mrd. Euro (insgesamt bis 2007: 13,2 Mrd. Euro); durch Ausgliederung des Zahnersatzes ab 2005 um jährlich 3,5 Mrd. Euro (insgesamt bis 2007: 10,5 Mrd. Euro) ... Diese Maßnahmen sollen dazu führen, dass der durchschnittliche Beitragssatz im Jahr 2007 auf 13, 0 Prozent zurückgeführt werden kann, was allerdings von den Krankenkassen ernsthaft bezweifelt wird.” (Hans-Ulrich Deppe, Agenda 2010 und Gesundheitspolitik, in: Solidarische Gesellschaft oder neuer Manchesterkapitalismus? Agenda 2010 - Die Globalisierung zeigt ihr Gesicht, Reader Nr.2 des Wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland, 2003, S. 29ff.)

Wie ist das Gesetz insgesamt einzuschätzen?

Die Reform des Gesundheitswesens, die am 01. Januar in Kraft treten wird, ist die einseitigste und umfänglichste Lastenverschiebung auf die Versicherten und die Kranken, die die Bundesrepublik je mitgemacht hat. (Vgl. Werner Schneider/Norbert Schmacke, Die Reform der Reformen. Zur ordnungspolitischen Neujustierung des Gesundheitssektors, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.9/2003) Es geht ihr auch nicht, wie dauernd behauptet wird, um Kostensenkung oder Einsparungen überhaupt, im Gegenteil. Tendenziell geht es hier und heute darum, mehr Geld in den Gesundheitssektor zu pumpen, weil man sich davon neue Akkumulationschancen erhofft. Dieses Mehr soll aber nicht von den Arbeitgebern bezahlt werden, sondern von den Arbeitnehmern, den Versicherten, den Kranken, den Individuen. Was hier erleben, ist mit den Kategorien von Karl Marx gesprochen, eine weitere Etappe im Prozess der reellen Subsumption des öffentlichen Dienstes unter das Kapital. Im Bildungssektor passiert ähnliches. Das Versprechen, das die sogenannten new economy langfristig nicht halten konnte, nämlich den Kapitalismus aus der Krise zu führen, wird nun versucht, den Sektoren der öffentlichen Wohlfahrt aufzubürden.

3. Alternativen zur Zweiklassen-Medizin - Alternativen zur Klassengesellschaft

Wird man im Moment nach Alternativen zur jetzigen Gesundheits”reform” gefragt, dann scheint es sinnvoll - diskutiert man die Frage zunächst einmal nicht grundsätzlich als Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft insgesamt -, sich die beiden Modelle der zukünftigen Finanzierung der GKV genauer anzuschauen. Es gibt im Moment zwei konkurrierende Vorschläge zur zukünftigen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung auf der einen Seite den Vorschlag Bert Rürups die GKV in Zukunft über “Kopfpauschalen” zu finanzieren, d.h. dass jedes Individuum eine einkommensunabhängige Gesundheitsprämie bezahlen muss - verbunden mit einem dann notwendigen steuerfinanzierten sozialen Ausgleich (Schätzungen zwischen 27 Beleg und 47 Milliarden Euro; vgl. Deutschland fair ändern. Ein neuer Generationenvertrag für unser Land - Programm der CDU zur Zukunft der sozialen Sicherheitssysteme, Oktober 2003). Der bislang vom Arbeitgeber bezahlte Anteil der GKV-Beiträge soll an die Arbeitnehmer ausbezahlt und der Anstieg der Beiträge in Zukunft im Rahmen von Lohnverhandlungen mitverhandelt werden. Damit würde die ursprünglich aus der Geschichte der Arbeiterbewegung kommende richtige Vorstellung einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für die Absicherung ungleich verteilter sozialer Risiken, die über prozentual am Einkommen gemessene Beiträge finanziert werden, zu der die Arbeitgeber paritätisch beizutragen haben, endgültig aufgegeben zugunsten einer liberal-individualistischen, bei der die Gesellschaft nur noch verstanden wird als eine Ansammlung von freien und gleichen Individuen... Genau das will auch die Herzog-Kommission. Diese will aber noch weiter gehen und ein Drittel der jetzt noch garantierten Leistungen aus dem Leistungskatalog ausgrenzen. Für diese Leistungen soll man sich dann noch zusätzlich versichern - zusätzlich zu den geplanten ca. 260 Euro Kopfpauschale. Gesellschaftliche Gleichheit wird hier verstanden als gleiche absolute Summe. 260 Euro für den Manager wie für den Wachdienstbeschäftigten und die Friseuse.

Sowohl bei Rürup als auch bei Herzog soll es für die GKV-Beiträge eine Obergrenze von 14% des Einkommens geben. Wer darüber liegt, soll über Steuern bezuschusst werden. Unklar ist bei diesen Modellen noch, wie mit den privat Versicherten umgegangen wird. Es gibt Modelle, alle Bürger in die Kopfpauschalen einzubeziehen wie in der Schweiz, es gibt aber auch Modelle, nur die GKV, wie sie bislang organisiert war, zu reformieren. Die Arbeitgeber fordern die schnelle Umsetzung des Konzeptes. Das Kopfprämien-Modell würde die endgültige Verabschiedung der paritätischen Finanzierung und damit den Systemwechsel bedeuten. Damit würde ein zentraler Pfeiler des gegenwärtigen solidarischen Systems aufgegeben werden.

Auf der anderen Seite gibt es aus der Rürup-Kommission den Vorschlag von Karl Lauterbach die GKV zu einer Bürgerversicherung zu machen, d.h. zu einer Versicherung für alle Einkommen und für alle Einkommensarten. Die paritätischen Finanzierung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern soll beibehalten werden, aber auch die Selbständigen und Beamten müssen sich in der GKV versichern, und auch Einnahmen durch Mieten, Zinsen etc. werden in die Beitragsbemessung einbezogen. Die Versicherungspflichtgrenze sollte im ursprünglichen Konzept aufgehoben und die Private Krankenversicherung lediglich noch eine Zusatzversicherung sein. Außerdem soll die Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der Rentenversicherung angehoben werden (5 100 Euro). Versicherungsfremde Leistungen sollen über Steuern finanziert werden. Zur Gegenfinanzierung wird die Tabaksteuer um 1 Euro je Packung Zigaretten angehoben. Die Umsetzung dieses Vorschlags würde eine Entlastung der GKV um 38 Mrd. Euro bedeuten und einen Beitragssatz von 10,7 Prozent ermöglichen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 24.03.2003). Damit greift er auf einen Vorschlag zurück, den die Gewerkschaften seit 25 Jahren machen und der noch im Wahlkampf 2002 von den GRÜNEN und - ein wenig eingeschränkt - auch von der SPD gemacht wurde. Der Vorschlage wird auch vom “sozialen Flügel” in der Union unterstützt, also z.B. von Horst Seehofer (CSU) und Norbert Blüm (CDU). Diese Form der Bürgerversicherung würde eine echte Ausweitung des Solidarprinzips bedeuten und kann insofern als - freilich vollkommen systemimmanente - Alternative zur aktuellen Sozialpolitik gesehen werden.

Inzwischen wird die Bürgerversicherung von der Mehrheit der SPD und den Grünen unterstützt - allerdings in abgeschwächter Form. Denn für die SPD ist klar, dass sie am “Nebeneinander von gesetzlichen Kassen und privaten Krankenversicherungen” festhalten, weil sie den “Wettbewerb wollen” (Vgl. Leitantrag des SPD-Parteivorstands: Das Wichtige tun - Wege zu einem neuen Fortschritt, Entwurf - Stand: 22. September 2003, in: www.spd.de, Stand: 24.11.2003)

Noch ist das letzte Wort über die Zukunft der GKV nicht gesprochen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass das Kopfpauschalenmodell tatsächlich durchgesetzt werden wird, weil es schlichtweg zu teuer für die Öffentlichen Hand ist und die Erfahrungen in der Schweiz dies auch bestätigen. Die Auseinandersetzung wird sich um die Form der Bürgerversicherung drehen. Hier wird die Frage sein, ob sich das System verändern wird in Richtung auf die Ausweitung des Solidarprinzips oder ob es weiterhin um einen Abbau desselben geht. Dieser ist auch mit einer reduzierten Form der Bürgerversicherung möglich, sie ist kein Schutz davor. Und alle Anzeichen stehen im Moment auf Abbau von Sozialstaatlichkeit, von Solidarität von Umverteilung von oben nach unten. Gerade die Gewerkschaften täten gut daran, sich an ältere Reformvorschläge zu erinnern und diese wieder offensiv einzufordern. Nach wie vor gehören dazu die Forderung nach einer Positivliste, nach integrierter Versorgung, nach einer vernünftigen Großgeräteplanung, nach Anstellung der niedergelassenen Ärzte anstelle ihres Unternehmerstatus. Dazu gehörten aber auch Forderungen nach einer rigorosen Umverteilung der vorhandenen Arbeit ohne Lohnabzüge, um die Einnahmeseite wieder zu verbreitern und die Lohnquote wieder zu erhöhen. Alles das scheint im Moment ähnlich unrealistisch wie die Prophezeiung einer kommunistischen Revolution in der Bundesrepublik in Kürze.

Will man allerdings wirkliche Alternativen zu diesem Gesundheitssystem diskutieren und - wie z.B. Attac - verhindern, dass Gesundheit vollständig zu Ware wird, wird man nicht darum herumkommen, über die Organisation dieser Gesellschaft zu diskutieren, die durch das Kapitalverhältnis bestimmt ist. Es wird nicht hinreichen und ist auch politisch naiv zu glauben, man könne bestimmte Bereiche der Gesellschaft davor beschützen, vom Kapital subsumiert zu werden, solange die Produktion kapitalistisch ist. Die notwendige Bedingung für eine wirkliche Alternative zum gegenwärtigen Gesundheitssystem ist die alternative Gesellschaftsordnung insgesamt, also diejenige, die das Kapitalverhältnis aufgehoben hat.