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Prof. Wolf-Dieter Narr und Yvonne Ploetz, MdB, Fraktion DIE LINKE
Pressebericht von Oliver Hilt für NEUES DEUTSCHLAND vom 16. Juli 2010:

"Kritische Urteilsfähigkeit ins Zentrum stellen"

Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr war erster Gast einer Debattenreihe zum Zustand der deutschen Hochschulen

Vor dem Hintergrund der Bildungsstreiks 2010 hat die Peter-Imandt-Gesellschaft/Rosa- Luxemburg-Stiftung, Regionalbüro Saarbrücken eine Debattenreihe zur Situation deutscher Universitäten gestartet.

Unter der Moderation der saarländischen Bundestagsabgeordneten Yvonne Ploetz (LINKE) soll mit ausgewiesenen Experten und im Dialog mit Publikum in einer Debattenreihe der "Zustand der Hochschulen kritisch abgeklopft" und die Ergebnisse in die Arbeit der Linksfraktion im Bundestag eingebracht werden. Den Auftakt machte der Politikwissenschaftler und ehemalige Dozent an der Freien Universität Berlin, Wolf-Dieter Narr.

Bachelor ist Verdummung durch Auswendiglernen, die Hochschulen sind technokratisch normierte Lernfabriken und an den Universitäten herrscht eine "erschreckende Leere" über die Vorstellung, wie sie eigentlich sein müssten. Vernichtender konnte die Kritik zum Auftakt kaum ausfallen. Dabei stellte Narr die aktuelle Entwicklungen wie die Einführung von Bachelor und Master in Zusammenhang mit einem seiner Beobachtung nach schon länger andauernden Prozess, in dem die Logik der "Schmalspurökonomisierung viel perfekter als jemals vorher" Raum gegriffen habe. In dem Bachelor-Master-System seien die neuen Klassen bereits angelegt und entschieden, wer „überall verwendbar“ sei oder zur "Crème de la Crème" gehöre.

In der Diskussion über die Zukunft der Hochschule würden vielfach die 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts an den deutschen Hochschulen gelobt – nicht ganz zurecht, meint Narr. Denn schon damals habe die "Durchkapitalisierung der Universität" angefangen. Es habe zwar mehr "Verfügungsraum" gegeben, mehr Geld, mehr Zeit. Der verklärte Blick zurück sei aber wenig hilfreich, wenn man Universität nicht "im neuen Kontext" analysiere.

Der "neue Kontext" heißt für Narr etwa "enormer Machtzuwachs für Rektoren und Präsidenten". Hochschullehrer würden "geködert durch das Wort Exzellenz" und sie würden zunehmend nur betreiben, "was ihnen staatlich aufoktroyiert wird". Als "goodies" winkten Drittmittel und die Einladung zu internationalen Kongressen. Letztlich sei das System "demokratisch und menschenrechtlich nicht akzeptabel", urteilt Narr.

Für die gesamte Entwicklung der Hochschulen findet er immer wieder den Vergleich mit dem Turmbau zu Babel. "Die Segmentierung der Forschung ist ungeheuer", und das gelte nicht nur für die Differenzierung der Fachgebiete, sondern auch innerhalb der Fachrichtungen selbst. Die Folge sei eine neue babylonische Sprachverwirrung: "Die verstehen sich gegenseitig nicht", konstatiert Narr. Damit folge die Entwicklung der Logik des kapitalistischen Staates, "dass alles zerhackt wird".

Menschen müssten dagegen so ausgebildet werden, dass sie in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft "urteilsfähig" sind, fordert Narr für das Bildungsziel einer humanistischen Universität. Und er sieht darin die Grundlage einer demokratischen Gesellschaft: "Menschen wollen verstehen, Menschen wollen urteilen und Menschen wollen mitbestimmten". Statt der Methode "Kopf ab und oben was reinschütten", gelte es deshalb, das aus dem Menschen herauszuholen, was in ihm steckt. In einer komplexer werdenden Gesellschaft nehme der Lernbedarf naturgemäß zu.

Die logische Forderung ist eine Öffnung der Bildung für alle, in einem System, das "nicht Universität in einer Demokratie sondern eine demokratische Universität" sei und die Entwicklung zur "kritischen Urteilsfähigkeit" ins Zentrum stelle. Dann könne es an Universitäten auch andere Innovationen geben als die, die direkt von der Wirtschaft gebraucht würden.

Die Debatte um den Zustand der deutschen Universität mit der Saar-LINKEN Yvonne Ploetz soll mit je einer monatlichen Veranstaltung in der Rosa Luxemburg Stiftung, Regionalbüro Saarbrücken, bis November 2010 fortgesetzt werden.